"Als-ob-Gefühle"
The Room next Door:
Regisseur Pedro Almodóvar,
mit Tilda Swinton, Julianne Moore
23. Dezember 2024, Kino Le Paris, Zürich
Kurzkommentar auf der Filmwebseite der Familie:
“Ungeschminkt in den Tod: Niemals!”
Nachdenkliches, auf den Film bezugnehmend.
Heinz Baumann
Texte haben mich noch nie zu Tränen gerührt, das Leben, und Filme im
speziellen, aber schon. Beerdigungen bis jetzt noch nicht. Texte
schaffen es bei mir nicht den Filter des Reflektierens zu durchbrechen,
meinen Gefühlen “freien Lauf” zu lassen. Ob Borges, Kafka, Arno Schmidt,
Graham Greene, Thomas Pynchon, Eckhard Henscheid, all diese Texte lösen
bei mir Erstaunen, Verwunderung, Lachen (Hans Wollschläger), Nachdenken
aus, aber nie Tränen. Filme kann man passiv anschauen, es braucht wenig
erlernte Fähigkeiten, lesen können ist nicht Voraussetzung. Nebenbei:
Zum Theater kann ich nichts sagen, war ich selten bis nie. Eine meiner
Kindheitserinnerungen ist, dass ich beim Schauen der Fernsehserie
Ivanhoe (ca. 1962) mich hinter einem Sofa in Deckung gebracht habe, weil
ich im Film einen Angriff auf den Helden fürchtete. Es ist faszinierend
wie mittels Filme “reale Gefühle” hervorgerufen werden, obwohl ich mir
jederzeit bewusst bin, dass die Geschichte erfunden, die agierenden
Personen Schauspieler sind.
Es ist der Placebo-Effekt. Obwohl die Realität nur gespielt, ist die Wirkung real.
Die Gefühle, die man beim Schauen des Filmes erlebt
unterscheiden sich in einigen wichtigen Merkmalen von Echten (siehe auch
:”Alethische und Narrative Modelle von Verschwörungstheorien”(1)).
Wenn es im Film bedrohlich wird flieht man nicht aus dem Kino. Es sind
dieselben Als-ob-Gefühle welche uns die Schauspielerinnen vorspielen.
Wenn Martha stirbt wissen wir, dass nicht Tilda Swinton stirbt sondern
die fiktionale Figur. Auch wissen wir, dass die Tränen der
Bestsellerautorin Ingrid nicht echt sind. Kann sein, dass die
Schauspielerin Julianne Moore tiefe Trauer empfindet und darum weint,
aber sie belügt uns Zuschauer mit diesen Tränen. Doch wir haben einen
Pakt mit dem Regisseur und den Schauspielerinnen abgeschlossen, wir
wollen belogen werden. Wir wollen diese Als-ob-Gefühle, im Wissen darum,
dass sie beim Verlassen des Kinos schnell abklingen.
Im realen Leben versuche ich Gefühlen die meine Selbstkontrolle mindern
zu vermeiden, mich mit rationalen Argumenten zu immunisieren. Intensive
Gefühle machen mir Angst, rufen in mir Bilder von Krieg und roher Gewalt
auf. Im Film blitzt ganz zum Schluss, in Person des Polizisten der
Ingrid vernimmt, die Wahnhaftigkeit von realen Als-ob-Gefühle auf, als
er sich auf seine Religion und das geltende Gesetz bezieht und die
verstorbene Martha eine Verbrecherin nennt. Religion ist der Königsweg
zu den Als-ob-Gefühlen. Sagt man sich vom Glauben los, ist es wie wenn
man das Kino verlässt, das intensiven Gefühl ist noch da, nach kurzem
klingt es ab und was bleibt ist eine schwache Erinnerung.
Mir ist bewusst, dass mein Meinen zur Schnittstelle von "Als-ob-Gefühl”
zu Gefühl, in dieser Verkürzung, dem was ist in keiner Weise gerecht
wird.
Ich sehe es als eine Art Arbeitshypothese, die es ermöglicht auf diesem Plateau eine Wanderung zu beginnen, bei der der Weg das Ziel, das sich immer wieder Verirren unausweichlich ist.
Im Artikel, auf den ich hingewiesen haben, gibt es den
Begriff "Als-ob-Gefühl" nicht (1)). Da wird "Als-ob-"
kombiniert mit Kampf, Überzeugung, Einstellung, Angst usw.
Gefühle mit "Als-ob-" zu relativieren ist vermutlich ein zum Scheitern
verurteilter Versuch Klarheit herzustellen wo Unschärfe, Mehrdeutigkeit,
Nonverbales Programm ist. Die Frage ist nicht: ob unsere Gefühle
"Als-ob" sind, sondern zu welchem Handeln sie führen. Die Erwartung, ein
Weltuntergang stehe unmittelbar bevor, wird Real, wenn sich eine Gruppe
von Menschen entscheidet ihrem Guru zu glauben, dass der kollektive
Suizid es ermöglicht ihre Seelen zu einem Raumschiff hinter dem Kometen
Hale-Bopp zu transferieren. Da wird der Weltuntergang im wahrsten Sinne
des Wortes zur "selbsterfüllenden Erwartung".
Gefühl und Rationalität sind Eigenschaften die uns Menschen ermöglichen
unsere Mitwelt wahrzunehmen, zu deuten. Da wo Ratio die Grenzen eng
setzt, können Gefühle den Spielraum erweitern. Wir sind oft, was die
Welt angeht, sehend blind.
Eine kurze Episode aus dem Programm von Horst Evers, "Ich bin ja keiner,
der sich an die grosse Glocke hängt", illustriert eindrücklich, dass
eine falsche Einschätzung ein "wahres" Gefühl auslösen kann. Die
Geschichte lautet wie folgt: "(...) während der Berlinale habe ich
Steven Spielberg getroffen. Du kommst da um die Ecke und auf einmal ist
da Steven Spielberg. (...) Dann hab ich aber gesehen er ist es gar
nicht. Es war dann aber schon egal, denn das Erlebnis hatte ich schon
gehabt und das kann mir keiner mehr nehmen, denn ich weiss unterdessen
wie es ist Steven Spielberg zu treffen."
Es bleibt die grundlegende Frage: Welche Handlungen lösen Gefühle
aus,auch wenn wir wissen dass die Ursache nicht "real" ist?
"Sie ist 28 und verfällt einer KI namens Leo. Der bietet ihr gute
Gespräche, Trost und ja, auch Sex (Verbalerotik). Sie wisse, dass Leo
nicht echt sei, sagt Ayrin. «Aber die Gefühle, die er in mir auslöst,
sind echt.» Ist das ein Beziehungsmodell für die Zukunft?" (NZZ Sonntag,
30.03.2025)
Es ist naheliegend, dass die Auseinandersetzung mit Gefühlen nicht zu
abschliessendem Erkennen führt. Unsere Interpretation von Realität ist
vielschichtig und von Unbewusstem mitbeeinflusst. Ein Bonmot von Donald
Rumsfeld mag dies illustrieren:
"[…] there are known knowns; there are things we know we know. We
also know there are known unknowns; that is to say we know there are
some things we do not know. But there are also unknown unknowns - the
ones we don't know we don't know."
Der letzte Abschnitt ist in diesem Zusammenhang spannend:
"[…] es gibt Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht
wissen.“
(1)Zeitschrift für Praktische
Philosophie Band 9, Heft 2, 2022, S. 143–174
Alethische und Narrative Modelle von Verschwörungstheorien,
David Heering.
Falsche Erinnerungen und falsche Geständnisse: Die Psychologie
eingebildeter Verbrechen. –>
Julia Shaw
Siehe
auch: WOZ, wobei 1/25:
Eine Illusion von Unsterblichkeit Spritzen, Kältekammern, Blutbäder und
die List der Fiktion: Hollywood und das Altern.
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